Biowetter. Prima inneres Klima. Ziele nachhaltiger Beratung: Innere Transformation und Integration. Part 5

Veröffentlicht am 18. Juni 2024 um 19:20

Resilienz und Persönlichkeit: variable und invariable Anteile

Ein Text von Romy Roesler I Integrative und ganzheitliche Medizin, Gesundheitsförderung und Lebensstilveränderung, persönlichkeitsbasierte Potenzialentfaltung in Beruf und zwischenmenschlichen Beziehungen

Im Rahmen des Fachartikels von Diana Yasmin Gold, Ivonne Hünig, Romy Roesler und Simone Schönmeyer zum Workshop Biowetter am Illertissener Schlossdialog 2024.

 

Sowohl in der Materialkunde als auch den klassischen Definitionen der Psychologie und Medizin wird Resilienz zunächst als eine bereits vorhandene Grundeigenschaft beschrieben (siehe 2.1), deren Besitz für die Widerstandfähigkeit gegenüber äußeren Einflüssen notwendig ist. In diesem Sinn sind körperliche und mentale Resilienz in jedem Menschen mehr oder weniger stark bereits zur Geburt angelegt und nicht zuletzt genetisch determiniert. Dieser Teil der Resilienz ist dem Einfluss von Schulung und Training nur geringfügig bis gar nicht zugänglich, andererseits aber auch im Positiven über die gesamte Lebensspanne des Menschen hinweg eine ausgesprochen stabile Basis, auf der sich in Beratung und Coaching aufbauen lässt.  

Während lange davon ausgegangen wurde, dass die gesamte Persönlichkeit eines Menschen – und damit auch seine Resilienz – wenigstens ab einem gewissen Alter konstant und unveränderlich seien, werden, exemplarisch gezeigt u.a. am Modell der Big Five, mittlerweile nur noch ca. 50% aller Persönlichkeitsanteile bzw. -ausprägungen für invariabel gehalten (vgl. Wirt o.D.). Neuere Studien belegen, dass sich Persönlichkeitszüge nicht nur überhaupt, sondern beispielsweise sogar mittels verhältnismäßig kleiner Interventionen und auf digitaler Basis verändern lassen (vgl. Stieger et al. 2021).

 

Insbesondere Dr. Julius Kuhl, von 1986 bis 2015 Inhaber des Lehrstuhls für Differentielle Psychologie und Persönlichkeitsforschung an der Universität Osnabrück, legte mit seiner Theorie der Persönlichkeits-System-Interaktionen (kurz: PSI-Theorie) einen neuartigen integrativen Ansatz in der Persönlichkeitspsychologie vor, in dem er bisherige Theorien vereint und dynamische situative und motivationale Prozesse als entscheidend für das komplexe Zusammenspiel der verschiedenen Ebenen der Persönlichkeitsarchitektur beschreibt: “Es gibt viele Faktoren, die den Zugang zum Selbstsystem unterstützen und bahnen können. [...] Interessant für Veränderungsprozesse sind die Ebene der Motive, die unbewussten Kraftquellen einer Person und die Selbstmanagement-Kompetenzen, die einer Person Willens- und Handlungsfreiheit erlauben.” Unter anderem wird dabei auch beschrieben, dass das Selbstsystem stark mit Körpererfahrungen vernetzt ist und konsekutiv auch Körperwahrnehmungsübungen das Selbstgespür verbessern können (vgl. Kuhl o.D.). Selbstachtsamkeitsbasierte Übungen setzen genau hier an.

 

Voraussetzungen für Lernen und Transformation im Beratungsprozess

 

Guy R. Lefrançois (2015, S. 6) definiert Lernen als „alle relativ dauerhaften Veränderungen im Erhaltenspotenzial, die aus Erfahrung resultieren, aber nicht durch Müdigkeit, Reifung, Drogengebrauch, Verletzung oder Krankheit verursacht sind.“ Aus der Lern- und Verhaltenspsychologie ist auch bekannt, dass dieser Vorgang nur dann möglich ist, wenn im Gegenzug die menschlichen Grundbedürfnisse nach Grawe (siehe 2.3) befriedigt sind. Es ist ausgesprochen sinnvoll, die Beratungstätigkeit an diesen Grundvoraussetzungen auszurichten und so beispielsweise schon mit der Auswahl von Ort, Zeit und situativer Gestaltung der Beratung den Grundstein für geistige und emotionale Aufnahmefähigkeit, leichtes Lernen und damit den Beratungserfolg zu legen. Es „[…] gehen uns in positiver Stimmung viele Dinge viel leichter von der Hand, wir treten unserer Umwelt freundlicher gegenüber (vgl. Horstmann; Dreisbach 2017, S. 136)“ (vgl. Henning; Mayerhofer o.D., S. 9).

 

Angelo und Schnitzler führten 1992 im Einzelnen verschiedene Arten des Lernens aus: das deklarative, prozedurale, konditionale und reflexive Lernen (vgl. ebd., S. 28). Die Auseinandersetzung der Beratenden und Coaches mit den verschiedenen Ebenen des Lernens und themenbasierte Verflechtung der Lernarten im Beratungsprozess können zum Lernerfolg erheblich beitragen. Gerade der Kontrast von praktischen, intuitiven Selbstachtsamkeitsübungen zu sonst oft rein kognitiven Lernvorgängen kann Neugier und Interesse schaffen. Die von Bandura benannten vier Faktoren der Selbstwirksamkeit können mittels Anwendung geeigneter Methoden und Techniken in Beratung und Coaching gezielt adressiert und gefördert werden. Zu jenen Faktoren zählen eigene Erfolgserlebnisse, Lernen durch Vorbilder, Ermutigung und Steuerung emotionaler und physiologischer Zustände bei Stress oder Angst (siehe 2.3). Leicht umsetzbare und funktionierende Beispiele, Aufgaben und Übungen mit Steigerung der Komplexität, erst im Verlauf oder vorgefertigte Schemata zu Beginn, dienen Lernenden dabei als Orientierung (vgl. Klug; Redman 2009, S. 34) und tragen durch Erfolgserleben bereits zur Stärkung der Selbstwirksamkeit bei.

 

Ein häufig beobachtetes Phänomen bei Lernprozessen in Beratung und Coaching, die z.B. bei einem Seminarbesuch oder Workshop angestoßen wurden, ist der Abbruch nach einer kurzen Phase der Anfangsbegeisterung, so dass das bereits Gelernte in der Lebenswirklichkeit von Coachees untergeht oder wieder ganz in Vergessenheit gerät. Zur Stärkung und Ausrichtung der Volition für das Umsetzen nachhaltiger Veränderungen, ist es somit sinnvoll, vorab eine konkrete Vision des beabsichtigten Lernerfolgs zu erarbeiten. Das Beratungsanliegen von Klientinnen und Klienten bzw. ihre spezifische Motivation einzubeziehen, erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass Gelerntes als Transferleistung auch in den Alltag integriert wird und somit auch eine dauerhafte Transformation auf den Ebenen der Kognition, Emotion und des Verhaltens stattfinden kann. Wie oben im Zusammenhang mit der PSI-Theorie bereits erwähnt, spielen bei tiefgehenden und längerfristigen Veränderungsprozessen auch besonders die der Motivation zugrunde liegenden Motive als „überdauernde Handlungsbereitschaft oder die einem Verhalten zugrunde liegenden physiologischen und psychologischen Ursachen und Beweggründe“ (Hornung; Lächler 2018, S. 114) eine entscheidende Rolle. Deshalb sollten sie ebenfalls in der Beratung aufgedeckt und einbezogen werden.

 

Personen, die selbstachtsamkeitsbasierte Methoden für sich selbst oder im Beratungs- und Coachingkontext anwenden, sollten sich dabei stets bewusst bleiben, dass diese nicht in jeder Situation und für jede Person geeignet bzw. zugänglich sind. Sollten während der Anwendung unbeabsichtigt negative Emotionen bei Coachees auftreten, sind eine professionelle, zügige Auflösung der als unangenehm empfundenen Situation und positiver Abschluss der Sitzung wichtig. So wird einer Fehlverknüpfung negativer Emotionen mit dem Coaching auf Basis des Negativity Bias’ vorgebeugt. 

Die vorgenannten Erkenntnisse aus der Lern-, Verhaltens- und Persönlichkeitspsychologie besitzen zweifellos eine gewisse Allgemeingültigkeit. Für Lernvorgänge wie beim Selbstachtsamkeits- und Resilienz-Training ist ein bewusster, gewissenhafter und sensibler Umgang hiermit umso wichtiger, da Veränderungen langfristig und auf einer tieferen Ebene angestrebt werden. Unter dieser Voraussetzung sind entsprechende Methoden hervorragend für einen breiten Einsatz in der Beratungs- und Coaching-Praxis geeignet und sowohl im Einzel- als auch Gruppen-Setting nutzbar.

Realistische Ziele und Erfolg in der selbstachtsamkeitsbasierten Beratung

 

Die Unterstützung von persönlichen Change-Prozessen ist oft ein zentrales Beratungsanliegen und impliziert im Sinne des Prozessbegriffs nicht nur ein singuläres Ereignis, sondern die Entwicklung über einen definierten Zeitraum. Auch (Selbst-)Achtsamkeit und Selbstwirksamkeit als Grundlagen der Resilienz bedürfen eines Lernprozesses und somit unter anderem des wiederholten Übens und vertieften Anwendens von passenden Methoden und Techniken als Voraussetzung für eine verstetigende Transformation und Integration in die Lebenswirklichkeit, den Alltag und spezielle Belastungssituationen. Beratung und Coaching können je nach Intensität und zeitlichem Umfang hierzu in Einzelsitzungen, Workshops oder Seminaren entweder einen wertvollen Lernimpuls geben oder im Mentoring gezielt längerfristig den Lern- und Transformationsprozess intermittierend begleiten.

Soll eine neue Gewohnheit – wie die regelmäßige Durchführung einer Selbstachtsamkeits-übung – etabliert werden, bedarf es dafür je nach Quelle mindestens 21-30 Tage und zur Festigung mindestens 90 Tage, damit sie dank der Neuroplastizität auch auf struktureller Ebene im Gehirn abgebildet wird und die Automatisierung des Verhaltens einsetzt“. In Abhängigkeit von der Zielsetzung benötigt dies im Durchschnitt ca. 66 Tage bei einem Range von ca. 18 bis > 254 Tagen (vgl. Lally et al. 2009).

 

Um die in der Gesellschaft immer weiterverbreitete, narzisstisch geprägte Selbstoptimierungsspirale zu durchbrechen und vor falschen Versprechungen zu schützen, sollten die wechselseitigen Erwartungen von Beratenden und Beratenen an die gemeinsame Arbeit zur Resilienzförderung realistisch sein und offen kommuniziert werden. Sie sollten auch der menschlichen Neurophysiologie Rechnung tragen und das notwendige weitere Engagement der Beratenen auch nach dem Beratungskontakt berücksichtigen. Dann können sowohl kurzfristige Entspannung als auch nachhaltige Veränderungen von Denken, Fühlen, Gewohnheiten, Haltung, Lebensstil und einem nicht unerheblichen Anteil der Persönlichkeit gelingen.

 

Juni 2024

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