Achtsamkeit und Selbstachtsamkeit als wichtige Qualität Beratender
Ein Text von Ivonne Hünig I Sozialarbeiterin /-pädagogin Life-Coaching Coaching Wandelmut - Veränderungsprozesse, Potenzialentfaltung, Persönlichkeitsentwicklung, Mental Health Training
Im Rahmen des Fachartikels von Diana Yasmin Gold, Ivonne Hünig, Romy Roesler und Simone Schönmeyer zum Workshop Biowetter am Illertissener Schlossdialog 2024.
Beratende und Coaches werden durch die jeweilige Situation und das Anliegen ihrer Klientinnen und Klienten individuell und themenbasiert gefordert. Dabei verlangt kongruentes und fokussiertes Arbeiten den beratenden Personen Energie, Aufmerksamkeit, Konzentration, Einfühlsamkeit und ein Sich-Einlassen auf das Gegenüber ab (vgl. Greif et al. 2018, S. 25ff; Wolff 2023). In Analogie zum Kaktus in der Wüste sind auch Beratende und Coaches selbst im Beratungsprozess ihren eigenen äußeren und inneren “klimatischen Einflüssen” ausgesetzt und sollten dennoch ihre Rolle präsent, professionell und effektiv ausfüllen: Daher erfordert es, der Komplexität ihrer Arbeit bewusst zu sein, um hierfür Strategien zu entwickeln sowie den Beratenen adäquat begegnen zu können (vgl. Hänsel 2012, S. 149).

Carl Rogers, amerikanischer Psychologe und einer der Begründer der humanistischen Psychologie, entwickelte den Ansatz der personenzentrierten Gesprächsführung, bei der einer wertschätzenden, empathischen und authentischen Haltung der Beratenden besondere Bedeutung zukommt. Im Beratungssetting bedarf es deshalb der kontinuierlichen feinen Selbst- und Fremdwahrnehmung durch Beratende und Coaches. Diese umfasst nicht nur alle physio-logischen Sinneseindrücke sowie deren kognitive Verarbeitung in Bezug auf Klientin oder Klienten, sondern auch eigene Empfindungen, Emotionen sowie Gedanken – und damit das eigene “innere Klima”. Auch erfahrene Beratende und Coaches können sich dadurch unter Umständen leicht ablenken und beeinflussen lassen. Dies kann die Qualität in der Interaktion mit der Klientin und dem Klienten beeinträchtigen und den Beratungsprozess stören (vgl. Tichy; Rieken 2018, S. 149). Innerhalb des Settings spiegeln sich Haltung, Stimmung, Gefühle und Aufmerksamkeit der beratenden Person nicht nur in Inhalt und Struktur der Beratung wider, sondern auch verbal in Stimme, Sprache und Sprechen als auch non-verbal in der Körpersprache. Bei bewusster Wahrnehmung und Steuerung kann dies auch gezielt zur Gestaltung der Zusammenarbeit genutzt und zu einer positiven Resonanz im Beratungsprozess beitragen. Stattfindende Übertragungen sollten seitens Beratender registriert, in die Beratung einbezogen und gegebenenfalls offen angesprochen werden, wenn sie einer erfolgreichen Beratung im Weg stehen.
Achtsamkeit praktizierende Coaches können Negatives und Positives leichter wahrnehmen, zuordnen und beurteilen. Zudem sind sie geübter in der eigenen Rückkopplung ihrer Wahrnehmungen und können darauf Acht geben. In seiner Dissertation “Die Kunst, präsent zu sein” (2018) arbeitete Harald Tichy heraus, dass im Beratungssetting nicht nur die Präsenz selbst eine zentrale Rolle spielt, sondern auch deren Kontinuität, welche mit einer erhöhten Aufmerksamkeitsspanne einhergeht (vgl. Tichy; Rieken 2018, S. 7). Die persönliche Aufmerksamkeit wird durch regelmäßige Achtsamkeitsübungen intensiviert, verlängert und gesteuert; es entsteht eine bewusstere Wahrnehmung zu einstudierten und automatischen Handlungen (vgl. Harrer; Weiss 2016, S. 97f).
Obwohl sich Carl Rogers Theorie und die Lehren des Buddhismus als Ursprung der Achtsamkeitslehre hinsichtlich ihres historischen, kulturellen und methodischen Hintergrunds deutlich unterscheiden, existieren elementare Parallelen in ihren Ansätzen. Durch die Integration universeller (selbst-)achtsamer Praktiken zur Betrachtung des eigenen “inneren Klimas”, können Beratende in ihrer persönlichen Entwicklung, ihr Verständnis für sich selbst vertiefen und gleichzeitig ihre Fähigkeit zur Präsenz in der klientenzentrierten Beratung stärken. Dies kann dazu beitragen, ein unterstützendes Setting zu schaffen, dass es Klientinnen und Klienten ermöglicht, sich offen und authentisch zu zeigen (vgl. Tichy; Rieken 2018, S. 7ff) und insgesamt die Professionalität und die Handlungsfähigkeit im beratenden Berufsalltag stärkt (vgl. Greif et al. 2018, S. 25ff; Wolff 2023).
Einsatz selbstachtsamkeitsbasierter Interventionen in der Beratung
Selbstachtsamkeitstechniken können aber nicht nur ein gutes “inneres Klima” bei Beratenden, sondern auch bei Coachees begünstigen. Der Beginn mit einer Selbstachtsamkeitseinheit fördert die Aufmerksamkeit sowie die Fokussierung auf die gemEinsateinsame Beratungssitzung. Achtsames Innehalten, während der Cochingsession kann Gelegenheit bieten für bewusste Selbstwahrnehmung und deren Reflexion in Zusammenhang mit dem Beratungsanliegen. Die Eindrücke können den Selbstexplorationsprozess fördern und einen Grundstein für positive Veränderungen legen (vgl. Greif et al. 2018, S. 26).
Die Anwendung von achtsamkeitsbasierten Interventionen sollte immer als optionales Ange-bot auf Basis der Freiwilligkeit vermittelt werden und einem prozessorientierten Ansatz folgen. Dabei sind auf die Bedürfnisse, Präferenzen und die Bereitschaft der Coachees einzugehen. Erfolg und eine verstetigende Wirkung können nur erzielt werden, wenn die gewählte Methode individuell passend ist und selbstständig im Alltag angewendet werden kann (ebd., S. 29).
Für manche Menschen stellt allein die bewusste Selbstwahrnehmung eine Herausforderung oder Verunsicherung dar. Es bedarf daher einen schrittweisen, begleiteten Erfahrungs- und Lernprozesses ohne Druck oder Erfolgserwartungen. Auch kann die Anlehnung an Spiritualität – oder gar Fehlinterpretation als Teil der Esoterik – Irritation und Ablehnung hervorrufen. Bestehen klientenseitig gar psychische Beeinträchtigungen, wie eine akute persönliche Krise, Traumata oder psychiatrische Vorerkrankungen, sind entsprechende Techniken ebenfalls nur wohlüberlegt und zurückhaltend einzusetzen. Dass die Anwendung achtsamkeitsbasierter Methoden negative Emotionen hervorrufen oder sogar traumatische Erinnerungen wiederbeleben kann, muss mit einkalkuliert werden. Unter Umständen sind für solche Situationen zusätzliche Kenntnisse und Techniken zur Wahrung der Sicherheit für Praktizierende notwendig. Vorab kann im Einzelgespräch eine gezielte Anamnese sowie in Einzel- und Gruppensettings eine orientierende, allgemeine Information über potenzielle Nebenwirkungen hilfreich sein. Bei der Bewältigung von schwerwiegenden, emotionalen Problemen und Traumata ist zusätzliche professionelle therapeutische Hilfe unerlässlich (vgl. Zimmermann 2022).
Auch bei Zustimmung zur Anwendung selbstachtsamkeitsbasierter Übungen ist ferner die intrinsische Motivation der Coachees zu prüfen: Wenn Achtsamkeit ausschließlich aus dem Drang nach Selbstoptimierung als Instrument für den persönlichen Gewinn, bei Fehlen der Verankerung ethischer Prinzipien oder zur Verstärkung des eigenen Egos angewendet wird, beeinträchtigt dies den eigentlichen Wert und Nutzen der Praktiken (vgl. ebd. 2022).
Eine einfühlsame, individuelle Einbettung von (Selbst-)Achtsamkeitstechniken in den gesamten Beratungsprozess ist daher essenziell. (Selbst-)Achtsamkeitsübungen repräsentieren nur eine von zahlreichen methodischen Möglichkeiten zur Resilienzförderung. Durch eine regelmäßige Praxis von Selbstachtsamkeit können Klientinnen und Klienten jedoch erlernen, sich selbst besser zu verstehen, ihre Stärken und Schwächen anzunehmen und einen souveränen Umgang mit Stressoren finden. Dem Coachee wird ermöglicht, neue Einsichten zu gewinnen, persönliches Wachstum wird gefördert und der “innere Kaktus kann erblühen” (vgl. Hänsel 2012, S. 149).
Juni 2024
Kommentar hinzufügen
Kommentare